Nachbarn auf vier Rädern
Die Köllners sind überall daheim, ihr Wohnzimmer ist die Manege. Zu Besuch bei einer Zirkusfamilie.
Ins Morgengrauen hinein hämmert sich ein Schlag. Dumpf hallt er von den Hochhauswänden wider, als habe ein Schmied samt Feuer und Amboss auf diesem schmalen Bauplatz Quartier bezogen. Von links dringen Hupen des Berufsverkehrs auf der Sommeringstraße, hinten von der Spree jaulen Lastenkräne – hier in Berlin-Charlottenburg wirkt der Zusammenprall eines acht Kilo schweren Vorschlaghammers mit dem Metall eines Eisenankers auf dem grünen Niemandsland wie aus einer anderen Zeit. Ricardo Köllner wischt sich kurz den Schweiß von der Stirn, dann drischt er weiter auf den gewaltigen Stab, wie es schon seine Vorväter taten. Am Abend wird es stehen, das acht Meter hohe Zirkuszelt.
Es ist acht Uhr in der Früh, acht Wochen lang wird der Zirkus Astoria hier haltmachen. Der Zirkus, das ist die Familie Köllner: Vater Ricardo und Mutter Velicka, die Kinder Celine, Jamie und Diego – sie sind der Zirkus, stehen in sechster Generation in der Manege. „Ich kann eigentlich nur Zirkus“, sagt Ricardo, 46, „es klingt banal, aber ist so: Ich möchte auch nichts anderes“.
Nach zwei Minuten ist der erste Eisenanker einen halben Meter tief in den Erdboden eingedrungen, es werden noch 39 folgen. Aus einem der drei Wohnwagen schwebt der Duft von Eiern mit Speck. Astoria ist einer von 300 Zirkussen in Deutschland. Früher brachten diese Reisenden Abwechslung, Geschichten und Nachricht in die Dörfer und Städte, heute gibt es TV und Internet. Es gibt sie aber noch, jene letzten Orte des anderen Lebens, und in ihnen haben sich eigene Familientraditionen bewahrt.
Ricardo geht zu einem Käfig mit fünf Tauben und öffnet ihn. „Wir sind seit gestern Abend hier, nun haben sie sich an die Umgebung gewöhnt. Da können sie los.“ Hinten streift Schäferhündin Betty um das Gehege mit drei Dromedaren, vier Eseln, vier Ponys, drei Lamas und einem Pferd, alle gemeinsam friedlich auf weitläufigem Areal. Bis zum Mittagessen muss noch der Dieselgenerator repariert werden, jedes Tier sein Futter kriegen und eine Ladung Holzraspel besorgt werden, „sonst staubt es hier zu sehr“, sagt Ricardo, „außerdem sieht es dann auch romantischer aus“.
Während er mit einem Kabelbinder den Zug am Generator befestigt und dieser zu rattern beginnt, übernimmt Waldemar die Fütterung – der 45-Jährige ist das einzige Nichtfamilienmitglied des Zirkus; seit zwölf Jahren reist er mit ihm, vorher lebte er alkoholkrank auf der Straße, die Köllners nahmen ihn auf. Vom Alkohol ist er los. Vom früheren Leben auch.
Um halb eins kommt die Familie zusammen, Diego aus der Schule, Velicka und Töchter von den Straßen des Kiezes – sie hatten Handzettel verteilt und für die Auftritte geworben. Im „Wohnzimmer“-Wagen nehmen alle Platz am hufeisenförmigen Tisch, es gibt Gulasch mit Knödeln. „Wie war die Klasse?“, fragt Velicka, doch Diego, 12, zuckt erst nur mit den Achseln. Nach zwei Bissen sagt er: „Ich kenn viele noch von vor einem Jahr, macht Spaß.“ Manchmal wechselt er jede Woche die Schule, Lernen „ist nicht mein Ding“, wie er später sagen wird. Lieber wäre er nur für den Zirkus da, wie der Papa; Ricardo war 12, als er endlich von der Schule durfte. Den Schriftverkehr überlässt er Velicka, 40. Die hat Abitur.
Bei Köllners am Tisch ist es laut, wird viel gelacht. Zwischendurch piept Ricardos Handy, da wird noch lauter in den Hörer gelacht; immer ist ein anderer Cousin dran. Er wisse nicht, wie viele Vettern er habe, sagt er. Ebenso, wie er nicht weiß, wie oft er sich als Artist einen Knochen brach. „Wir Komödianten sind eine große Familie. Alle helfen sich gegenseitig. Freunde außerhalb der Familie haben wir nicht.“ Es ist eine verkehrte Welt zu jener, wo die „Privaten“ wohnen, wie sie sagen. Die Sesshaften. Während da draußen Verwandte immer weniger und Freunde immer mehr zählen, ist die Familie für die Reisenden mehr als der Kern. Sie ist eigentlich alles.
„Wir haben eine andere Mentalität, wir sind irgendwie überall zu Hause“, sagt Ricardo, „wir sprechen auch anders, wir rackern nämlich Romnes.“ Köllners sind Deutsche. Schon Ricardos Großvater hatte einen Zirkus, die Generationen davor verdingten sich als Stelzenläufer auf Jahrmärkten. Köllners gehören zur uralten Gruppe der Komödianten. Ihr „Romnes“ ist ein Soziolekt, ein sprachliches Ergebnis des Lebens unterwegs, herausgebildet im Lauf der Jahrhunderte im Umgang mit den anderen Fahrenden – den Sinti und Roma sowie den Jenischen, den Angehörigen von marginalisierten Armutsschichten, die einst zu einer Gruppe zusammenwuchsen.
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