1954: Manegenzauber zieht nicht

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Circusworld
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1954: Manegenzauber zieht nicht

Ungelesener Beitrag von Circusworld » 09.08.2017, 15:46

ZIIRKUS / KRISE
Manegenzauber zieht nicht


Der Zirkus Holzmüller war eine der namhaften deutschen Manege-Menagerien. 1952 ging er auf eine Tournee durch Spanien, ausgestattet mit 14 kompletten Tiernummern, einem rollenden Zoo mit 42 Pferden, sieben Eisbären, sechs Elefanten, fünf Löwen, vier Braunbären, mit Zebras, Ponys, Eseln, mit 80 Wagen und 35 Mann deutschem Personal.
Er ist zurückgekehrt mit fünf Wagen, drei ausgemergelten Elefanten, zwei Ponys, einem Esel und einem niedergeschlagenen Direktor Willi Holzmüller. Unter schweren Verlusten und in desperaten Versuchen, sich dennoch zu halten, ist das Unternehmen auseinandergefallen.
Holzmüllers Fall ist nur einer im Zirkussterben der letzten Zeit. Der "Internationale Varieté-Theater- und Circus-Direktorenverband in der Bundesrepublik", Sitz Düsseldorf, verkündete bei der letzten Tagung der deutschen Zirkus-Direktoren in höchster Bedrängnis, daß von 44 Unternehmen, die nach überstandener Währungsreform dem Verband angeschlossen waren, noch 16 übriggeblieben seien.
Kurt Bruck, der unverwüstliche alte Präsident des Verbandes, findet es schwer, beim Abhaken hinscheidender Unternehmen Schritt zu halten. Einem Journalisten, der sich am Tag nach der Verlust-Bekanntgabe eine genaue Liste der Übriggebliebenen erbat, eröffnete Bruck beim Nachrechnen bedauernd, daß die Zahl der überlebenden Zirkusse - wie er eben feststelle - schon auf 15 (darunter ein halbes Dutzend größerer Unternehmen) geschrumpft sei. Auch von diesen stehen nur noch neun einigermaßen solide da.
Als die Hagenbecks Ende Oktober 1953 ihren kompletten Zirkus zum Verkauf anboten, wurde die Öffentlichkeit zum erstenmal mit gemütvoller Bestürzung darauf aufmerksam, daß der Boden unter dem glorifizierten Sägemehl der Manegen nachgibt und die als nahezu unsterblich geltende
Institution "Zirkus" dahinzusinken scheint. Die Zirkusleute aber möchten dem Publikum gern einreden, daß es einer optischen Täuschung unterliege, daß die Zelte nicht für immer, sondern nur "vorläufig" abgebrochen werden.
Willi Holzmüller sagt, daß er auf "bessere Zeiten" hoffe. "Ich will's nicht glauben, daß diese Zeit (des Zirkus) vorüber sein soll ...", schrieb inbrünstig ein Mitarbeiter des Varieté-Fachblattes "Organ". Junior-Chef Carl-Heinrich Hagenbeck kleidete seine Zuversicht in einen botanischen Vergleich: "Die Zirkuswiese ist in Deutschland zu sehr abgegrast, wir wollen warten, bis sie wieder nachgewachsen ist."
Der Ausspruch entpuppt sich jedoch als eine unglückliche Metapher, denn eines der vielen Kümmernisse des ambulanten Schaugewerbes
ist gerade das Verschwinden der angestammten Zirkuswiese vor allem in den großen Städten, so daß auch das beste Gras keine Chancen hat, nachzuwachsen. In Köln wird der angestammte Spielplatz in eine Hubschrauber-Station verwandelt. In Düsseldorf sind die Rheinwiesen meist mit nichtzirzensischen Veranstaltungen belegt, die Vorrang besitzen. In München scheiterte ein geplantes Zeltgastspiel des Zirkus Krone, weil die Theresienwiese nur für das Oktoberfest und die landwirtschaftlichen Ausstellungen freigegeben wird, damit sich die Grasnarbe erholen und nachwachsen kann, - aber nicht für den Zirkus.
Die Fahrenden wissen in ihrem ahnungsvollen Herzen, daß sie in dieser Krise nicht nur vorübergehend Geld, sondern ihre Existenzmöglichkeiten verlieren. Ihr Bajazzo-Optimismus
blättert ab. Auch Hagenbeck gibt zu, daß er nach den Verlusten in der 1953er Saison aus dem Geschäft steigen mußte, um nicht im nächsten Jahr unter gefährlichen Einbußen für die anderen Zweige des Familienunternehmens - den Tierpark in Stellingen und den Tierhandel - hinausgeworfen zu werden.
Der Zirkus Krone, der früher im Winter in seinem festen Bau in München zu spielen pflegte, muß 1953/54 in Italien reisen, während im Münchner Krone-Bau die Catcher ringen. Das ist die zirzensische Situation. Deshalb nimmt es auch nicht wunder, daß sich für den Hagenbeckschen Zirkus noch kein Komplett-Käufer gefunden hat, der kühn genug wäre, zweieinhalb Millionen Mark auf die Zirkus-Spielbank zu packen.
Was treibt einen Zirkus in den Ruin? Die Zirkusleute deuten von sich aus auf drei fatale Faktoren: den eingeengten Spielraum in Westdeutschland und Westeuropa, die immensen Unkosten und Steuerlasten, den rücksichtslosen Konkurrenzkampf.
"Es gibt immer noch zu viel Zirkusse auf dem beengten westdeutschen Raum", erklärt Hagenbeck-Pressechef Niemeyer. "Eine Stadt, in der früher ein Zirkus pro Jahr gastierte - der natürlich dann gut besucht war - , wird heute von drei Unternehmen in jeder Saison überlaufen." Die Zirkusse liegen in einem rücksichtslosen Kampf um die immer rarer werdenden fündigen Plätze. Manche Direktoren nehmen zu schmutzigen Tricks Zuflucht: Sie belegen im voraus Orte, die sie gar nicht bespielen wollen, nur um die Konkurrenz zu torpedieren.

Mehr unter: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-28956074.html
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